Schon als ORF-Moderatorin konfrontierte Barbara van Melle ihre Zuschauer immer wieder mit Nach­richten aus der Welt der Lebensmittel – von Weihnachtsrezepten bis zu Reportagen über Bauern in Afrika. Inzwischen hat sie aus der Leidenschaft fürs Kochen einen Beruf gemacht. Als Vertreterin von Slow Food Wien kämpft sie für bessere Lebensmittel und den Erhalt alter bäuerlicher Kulturen.

Jeder braucht einmal eine Pause, wenn er stundenlang am Laptop arbeitet. Die meisten Menschen stehen dann auf und holen sich eine Tasse Kaffee, oder sie gehen vor die Tür und rauchen eine Zigarette, bevor sie weitermachen. Barbara van Melle kocht. „Da bringe ich meine Gedanken wieder in Schwung“, lächelt die ehemalige ORF-Lady etwas schuldbewusst, „ich sitze normalerweise am großen Esstisch vor der offenen Küche. Da ist es ja nur ein Schritt, und ein Kuchen ist schnell angerührt.“ Außerdem gehört das Hantieren mit Zucker, Zimt und Mandelkernen ja gewissermaßen zum Geschäft. Seit der ORF 2009 sein Familienmagazin „Schöner leben“ einstellte, das Barbara van Melle sechs Jahre lang mitgestaltet und präsentiert hatte, widmet sich die Moderatorin gänzlich dem Einsatz für besseres Fleisch und natürlicheres Gemüse. Und zwar ziemlich massiv: Sie leitet den Wiener Ableger der aufsässigen italienischen Genießer-Bewegung Slow Food. Sie organisiert im Wiener Rathaus die alternative Ernährungsmesse von Terra Madre – einer mit Slow Food eng verwobenen Bewegung, die vor allem den Bauern aus Entwicklungsländern die Märkte des Nordens erschließen soll. Als erfahrene Medienfrau hat van Melle inzwischen auch eine Zeitschrift für ihre Organisation aus dem Boden gestampft, die gemeinsam mit dem Genussmagazin À la Carte erscheint. Daneben betreibt sie eine Art Online-Greißlerei für die Produkte kleiner, ungewöhnlicher Produzenten (www.vielfalt.com). Und sie rief das Restaurantprojekt „Chef’s Table“ ins Leben, wo einmal im Monat eine Gruppe von Gästen ein mehrgängiges Menü genießen darf, das Küchenchef Oliver Scheiblauer vor ihren Augen zubereitet. Aber ein bisschen Zeit fürs Selberkochen muss einfach bleiben, auch dann, wenn sich Anrufer nicht an die Pausen halten, die sich die umtriebige Heimwerkerin verordnet hat. Da kommen dann eben mitunter Anrufer von wichtigen Firmen, während van Melle grad am Herd steht, worauf sie fix das Handy an der linken Schulter einklemmt und mit trockener Moderatorenstimme auf den Gesprächspartner einredet, während die Rechte Eischnee unter die Topfen-Marillen-Masse rührt. Plötzlich hebt sie den Kopf, säuselt ein weiches: „Entschuldigen Sie, ich krieg grad ein anderes Gespräch herein, darf ich Sie in fünf Minuten zurückrufen?“, legt auf und stürzt an den Herd. Die Schokolade im Wasserbad ist flüssig geworden, jetzt braucht die Köchin volle Konzentration. Die kleine Notlüge war da unerlässlich: „Ich kann ja nicht gut sagen, ich muss aufhören, weil sonst der Teig zusammenfällt.“

Mit dem Engagement für Slow Food ist die gebürtige Steirerin unversehens ins Zentrum der österreichischen Kulinarikszene gerückt. Slow Food wurde 1989 vom piemontesischen Journalisten Carlo Petrini gegründet und widmet sich der Förderung von bodenständigen, ursprünglichen Lebensmitteln sowie autochthonen Produktionsformen. Wie der Name ver­muten lässt, war die Bewegung anfangs eine Kampfansage gegen die Lebensmittelindustrie und Fast-Food-Ketten, ein Protest gegen das Absterben der kulinarischen Vielfalt, das Verschwinden von alten Obst- und Gemüsesorten, die Konformität des Geschmacks. Heute trifft sich dort eine merkwürdige Mischung aus grünbewegten Widerständlern gegen industrielle Marktmacht einerseits und High-End-Genießern andererseits, die bei seeluftgetrocknetem Schinken von nordspanischen Waldschweinen und oberhalb der Baumgrenze handgepflückte Heidelbeeren den ultimativen Geschmacks-Kick suchen. Mit seinen mittlerweile über 150 Länderorganisationen und vor allem der jährlichen Lebensmittelschau „Salone del Gusto“ in Turin wurde Slow Food zu einer weltweiten Plattform für die Begegnung von Feinkosthändlern und Restaurant-Betreibern mit kleinen Produzenten. Der Erhalt der Artenvielfalt wird gezielt gefördert, weshalb sich in Turin immer auch Züchter von seltenen Haustierrassen und halb vergessenen Obstsorten tummeln und hoffen, das Interesse von Sterneköchen zu erregen. Im Oktober 2012 waren erstmals auch österreichische Aussteller vertreten: Schinken-Zauberer Roman Thum, Essig-Tüftler Erwin Gegenbauer, Schneckenzüchter Andreas Gugumuck, die Bäckerei Joseph Brot vertraten die Region Wien. Der „Wiener Gemischte Satz“ wurde sogar als besonders schützenswerte Spezialität in die „Arche des Geschmacks“ aufgenommen – vor allem machte bei den Besuchern die Tatsache Eindruck, dass die Großstadt Wien nicht nur ein paar denkmalgeschützte Hinterhof-Weingärten zu bieten hat, sondern hier tatsächlich in ernsthaftem Umfang Weinbau betrieben wird. „Wir haben auch ein Laboratorio abgehalten, so heißen die Geschmacks-Workshops auf dem Salone, und wir waren voll ausgebucht“, schwärmt van Melle, „unter den Zuhörern saß fast ein Dutzend internationale Journalisten. Unglaublich, welche Aufmerksamkeit Wiener Kulinarik erreicht, sobald sie sich aus der Sachertortenzone hinausbewegt.“ Der Weg Barbara van Melles ins Kraftzentrum der kulinarischen Gegenwelt führte über ein Spalier von prominenten Vermittlern. Am Anfang stand die Liebe zum Kochen, die schon zu Zeiten ihres Wirkens als ORF-Moderatorin die wichtigsten Entscheidungen mitbestimmte. Die gebürtige Steirerin (der Name täuscht – er stammt aus einer längst verflossenen Ehe mit einem Holländer) präsentierte im Laufe der Jahre Sendungen wie „Universum“, „Thema“, „Schöner Leben“ – immer rutschten ihr von Zeit zu Zeit kulinarische Berichte ins Programm. Bei „Schöner Leben“ gab es dafür sogar eine eigene Nische. Wer die Moderatorin näher kennen lernte, sei es beruflich oder privat, wurde früher oder später ihren Kochkünsten ausgesetzt. „Das ergibt sich ganz zwangsläufig. Wenn ich jemanden schätze, dann will ich auch für ihn kochen.“ Zu diesen Menschen gehörte eines Tages auch Star-Regisseur Peter Sellars. Er war von den kulinarischen Kreationen derart angetan, dass er van Melle mit einer Ikone der amerikanischen Genusskultur bekannt machte, nämlich der kalifornischen Avantgarde-Köchin Alice Waters, die in Berkeley das Restaurant Chez Panisse betreibt und zu den Pionieren der Bio-Bewegung in den USA gehört. Waters ist außerdem Vizepräsidentin von Slow Food International und versuchte längere Zeit, die neue Wiener Freundin zu überreden, die Leitung des österreichischen Slow-Food-Conviviums zu übernehmen. „Das bestand damals aus einer Gruppe von durchaus engagierten Leuten, von denen aber keiner Zeit hatte, etwas Öffentlichkeitswirksames auf die Beine zu stellen. Man traf sich und tauschte Erfahrungen aus.“ Als Sellars 2006 in Wien zum Mozartjahr das Festival „New Crowned Hope“ veranstaltete, machte er unter anderem Waters und van Melle zu Kuratorinnen. Im selben Jahr schleppte die Amerikanerin van Melle zum Salone del Gusto nach Turin – und da funkte es: „Ich sah diese wahnsinnig faszinierende Welt von außergewöhnlichen Produkten, seltenen Pflanzen und hingebungsvollen Menschen. Alle waren vertreten, von Südindien bis Ungarn. Nur Österreich fehlte gänzlich. Als würde es uns kulinarisch gar nicht geben.“

„Wenn ich jemanden schätze, dann will ich auch für ihn kochen.“
Barbara van Melle

Inzwischen ist Slow Food Wien nicht nur medial präsent, sondern knüpfte vielfältige Netzwerke mit lokalen Produzenten und gibt mit der Messe „Terra Madre“ im Wiener Rathaus regelmäßig ein weithin sichtbares Lebenszeichen. Eines der jüngsten Projekte nennt sich „Slow Food Travel“ und will die Idee der Nachhaltigkeit, des Förderns der Kleinen und des Erhalts der regionalen Traditionen auch auf den Tourismus übertragen. Bald soll es Reiseziele geben, die das Slow-Food-Siegel tragen, als Zeichen, dass dort Genuss und Verantwortung Hand in Hand gehen. Die Wiener Slow-Food-Gruppe hat die Aufgabe übernommen, die Idee als Pilotprojekt zu entwickeln und zu testen. „Wir haben das in Turin vorgestellt und wurden gleich überrannt“, berichtet van Melle, „aus Costa Rica, aus der Ukraine kamen Mails, dass die das auch machen wollen. Ich musste ihnen sagen, Geduld, wir sind noch in der Pilotphase.“ Der Name ORF fällt kaum je im Gespräch mit Barbara van Melle, obwohl sie gut 25 Jahre ihres Berufslebens auf dem Küniglberg oder im Funkhaus in der Argentinierstraße verbracht hat. Das liegt nicht an irgendwelchen Kränkungen oder Animositäten – im Gegenteil, der ORF führt van Melle nach wie vor in der Liste seiner Stars, wer will, kann sie auch über die Vermarktungsstelle des öffentlichen Rundfunks buchen. Sie ist sich auch bewusst, dass ihre Arbeit von der Bekanntheit profitiert, die ihr die jahrelange Präsenz auf dem Bildschirm verliehen hat. Aber die Ex-Moderatorin geht so sehr in ihren gegenwärtigen Aufgaben auf, dass sie sich kaum je die Zeit nimmt, zurückzudenken. Auch der Beginn ihrer Rundfunk-Karriere 1984 war das Ergebnis von Zufälligkeiten. Barbara studierte Publizistik, hatte eine wissenschaftliche Laufbahn im Sinn und dachte nicht im Traum daran, aktiv in die Welt der Medien einzutauchen. Eines Nachmittags begleitete sie eine Kollegin zu einem Sprecher-Test beim Radio. Obwohl selber gar nicht angemeldet, wurde sie ebenfalls vors Mikrofon gebeten – und überzeugte durch die angenehme Stimme und die unerschrockene Art. „Ich glaube, es hat gerade deshalb geklappt, weil ich es nur so nebenbei zum Spaß gemacht habe, und der Spaß ist anscheinend rübergekommen.“ Es folgten vier Jahre im Hörfunk, dann der Wechsel zum Fernsehen. Dort werkte sie in der Wissenschaftsredaktion und produzierte Dokumentationen mit Titeln wie „Zeitbombe Mensch“ oder „Der sechste Sinn“. 1995 stieß sie zu „Thema“ und wurde zum Bildschirmgesicht – bis 2002 bei der noch heute bestehenden Magazinsendung, danach bei „Schöner Leben“, das 2009 eingestellt wurde. Damals tat ihr das leid. Heute ist sie überzeugt, dass vergleichbare Sendungen einfach nicht mehr den Stellenwert hätten wie noch vor 5 Jahren, weil elektronische Medien das Umfeld verändert haben: „Vor allem Fernsehen als Medium hat ohne Zweifel seinen Zenit überschritten. Jüngere Menschen nützen es kaum noch, die sitzen alle vor ihren Computern und schauen ausschließlich on demand.“ Noch vor einem Jahrzehnt war Fernsehen die große gesellschaftliche Klammer, die das ganze Land am Samstagabend vor derselben Show vereinte. Die Einheit ist der Vielfalt von Satellit, Kabel und Internet gewichen. Die Analogie zur Vielfalt der bedrohten Pflanzen und Tiere drängt sich auf: Diversität ist ein Wert geworden, der in unserer Gesellschaft mehr und mehr geschätzt wird, findet van Melle, „das müssen wir für den Erhalt unserer bäuerlichen und handwerklichen Traditionen nutzen, denn die letzten hundert Jahre waren geprägt von einem erschreckend schnellen Artensterben.“ Nicht nur indische Tiger und pazifische Meeresschildkröten werden durch den Menschen in ihrem Lebensraum bedroht. Noch viel ärger wirkte sich der Verlust der Biodiversität bei Nutztieren und landwirtschaftlichen Pflanzen aus. In Europa gingen seit 1900 etwa 75% des ursprünglich verbreiteten Saatguts verloren, in den USA waren es 93%. Sie wurden durch eine kleine Zahl von industriell verbreiteten Einheitsäpfeln und Einheitsgurken verdrängt. Hier will Slow Food mit der „Arche des Geschmacks“ dagegenhalten. Dort werden Lebensmittel aufgenommen, die in ihrem Ursprungsland lange Tradition haben, aber durch die Globalisierung gefährdet sind. Ziel ist es, diese alten Sorten wieder in den Handel zu bringen – die Registrierung in der Arche mit dem Prädikat „presidio“ ist also ein Zeichen, dass sich mutige Bauern und Händler gefunden haben, die sich den gefährdeten Arten widmen, sie pflegen und vertreiben. „Die Marktfähigkeit ist ein wichtiger Aspekt“, betont van Melle, „die Arche soll kein Museum sein, sondern die Traditionen tatsächlich neu beleben.“ So ergibt sich ein fast paradoxer Zirkelschluss: Die richtige Art des Kochens kann tatsächlich die Welt verändern. Indem Gourmets ihrer überfeinerten Sinnenlust Lauf geben und darauf bestehen, nur das Beste vom Besten auf den Teller zu bekommen – liefern sie den sinnvollsten Beitrag zum Erhalt der Artenvielfalt, den ein einzelner leisten kann.

Am „Chef’s Table“ wird übrigens ebenfalls fast ausschließlich mit Lebensmitteln aus dem Arche-Register gekocht. Zugleich fördert die Lust am Entdecken von seltenen Gemüsen, ungewöhnlichen Hühnerrassen oder dem Lammfleisch aus der Region auch die Entwicklung des eigenen Geschmacks. Für Barbara van Melle ein wichtiger Aspekt ihrer Arbeit: Geschmack ist eine Frage der Kultur, man kann ihn erlernen – und man kann die Kinder von Anfang an dazu erziehen. „Ich hatte das große Glück, mit einer kochenden Mutter aufzuwachsen“, sinniert die gebürtige Steirerin, die mit 12 von ihrem Taschengeld das erste Kochbuch kaufte und an jedem Wochenende Kuchen und Strudel für die ganze Familie zauberte. Heute stellt sie sich oft und gern für die Großfamilie an den Herd – Mann (Primarius für Anästhesie, ebenfalls kochaffin) und vier Kinder: „In der Erziehung liegen die Wurzeln für das Verständnis von Qualität. Es stimmt nicht, dass Kinder nur Nudeln und Pommes wollen. Ich habe immer wieder in Kinderprojekten bei Slow Food gesehen, wieviel Lust und Neugierde man wecken kann, wenn man sich nur die Mühe macht.“ Natürlich kann die Freude des Nachwuchses am guten Essen auch ein bisschen kostspielig werden. Als die Slow Food Präsidentin ihren 13jährigen Sohn für sein besonders gutes Zeugnis belohnen wollte und ihm einen Wunsch freistellte, da musste der Teenager nicht lange nachdenken: „Er wünschte sich ein Abendessen im Steirereck.“