Nein, Angelika Hager ist nicht Polly Adler. Nicht so wirklich jedenfalls. Sie hat die Kunstfigur, die zu Österreichs bekanntester Zeitungskolumnistin wurde, lediglich erfunden. Genau wie ihr Geschöpf empfindet sie das Dasein als ein Schlittern durch einen chaotischen Alltag. Und deshalb gehen ihr auch die Themen nie aus: Das Leben liefert sie regelmäßig frisch in die Schreibmaschine.

Ein Interview mit Polly Adler alias Angelika Hager kann schnell eine unerwartete Wendung nehmen. Vielleicht hätte der Fotograf diesmal auf seine geschmacklosen Witze verzichten sollen, die er immer anbringt, angeblich um die Bildmotive aufzulockern, bevor er sie mit einem Blitz wieder einschüchtert. Ganz sicher hätte er nicht erwähnen dürfen, dass er seit seiner Scheidung fleißig Internet-Bekanntschaften knüpft. Beides machte die Journalistin nämlich hellhörig: „Kann ich das gleich verwenden? Ich bereite gerade ein Buch über Männer vor, da würde das perfekt hineinpassen.“ Wie sich herausstellte, kann man sehr viel über die Autorin erfahren, wenn man – statt sie zu interviewen – ihr dabei zuschaut, wie sie ihrerseits ein Opfer zum Reden bringt. „Männer geben sich heute keine Mühe mehr mit den Frauen, warum ist das so?“, will sie wissen. „Habt ihr durchs Internet verlernt, um Frauen zu werben? Weil man dort das Gefühl kriegt, man kann wie im Katalog auswählen und einfach zugreifen?“ Ganz im Gegenteil, sagt der Fotograf, das Internet ist ein romantischer Ort, „zwei Drittel aller Frauen verwenden ,Sonnenschein‘ als Nickname, das restliche Drittel lässt sich mit Hund fotografieren.“ – „Das machen sie doch nur deshalb, weil sie wissen, dass die Männer, die ins Internet gehen, auf den Häschentyp fixiert sind. Genau das meine ich: Es sind die Frauen, die sich anbieten, nicht die Männer, die werben.“ „Männer wollen Abenteuer, Frauen Beziehungen“, behauptet der Fotograf und bevor Angelika Hager noch „Klischee!“ einwerfen kann, ruft er: „Apropos! Warum schauen sich Frauen Pornofilme immer bis ganz zum Schluss an?“ Dafür erntet er ein zustimmendes Lachen: „Weil sie glauben, dass die beiden dann heiraten. Den Witz habe ich selber schon oft verwendet.“ Weil es nämlich ein Happy-End-Witz ist und die Pointe deshalb eine tiefe dramaturgische Wahrheit illustriert: Die Auflösung in einem Moment des Glücks, auf den so viele Filme und Romane zusteuern, ist zugleich der Punkt, ab dem die Geschichte uninteressant wird. Zeit für den Abspann und den hinteren Buchdeckel, was danach passiert, will niemand wissen. Deshalb schreibt Angelika Hager über das Scheitern und den heldenhaften Umgang damit, nicht über Sonnenschein und Schmetterlinge im Bauch. Es sind die tragischen Momente, der Kampf mit den Widrigkeiten, die Leser fesseln und Emotionen in ihnen wecken. „Wenn Anna Karenina am Ende glücklich mit Graf Wronskij vereint aufs Land gezogen, Hochbeete mit Zucchini angelegt und Kinder zur Welt gebracht hätte – kein Mensch hätte das Buch je weiter empfohlen.“ Einsichten wie diese bringt Angelika Hager seit vielen Jahren zu Papier – als Redakteurin beim Profil, als Verfasserin von Büchern und von Beiträgen für die Kabarett-Programme von Andrea Händler, vor allem aber als Autorin hinter der Kunstfigur Polly Adler, die vor genau 20 Jahren, im Sommer 1995, als Kolumne in der freizeit, der samstäglichen Hochglanz-Beilage des Kurier ihr Leben erblickte. Seither wurde Polly zur Lebensbegleiterin einer ganzen Generation von Frauen, die dort ihren eigenen chaotischen Alltag ironisch aufgefrischt wiederfinden und sich trösten an der seufzenden, letztlich aber doch lebensfrohen Beschreibung der ganz normalen Unmöglichkeiten von Beziehungen, Mutterfreuden, Männer-Krämpfen und Job-Zumutungen.

Inzwischen gibt es Polly auch als Heldin von Kurzgeschichten und Romanen, sie wurde (verkörpert durch Petra Morzé) zum Fernsehstar und stolperte sogar durch eine Serie. Dabei entsprang die Alltagsheldin recht bescheidenen Anfängen. Anno 1995 arbeitete Angelika Hager bei der Zeitschrift News, als Michael Horowitz, damals freizeit– Chefredakteur, wegen einer Frauen-Kolumne bei ihr anfragte. Da sie so ein Angebot nicht ausschlagen wollte, es zugleich aber aus Konkurrenzgründen eigentlich nicht annehmen durfte, beschloss sie, sich hinter einem Alias zu verstecken. Das Pseudonym und das zugehörige, mittlerweile auch zur Ikone gewordene Bild sind eine Geschichte für sich. Es gibt nämlich eine historische Polly Adler, die als Puff-Mutter mitten im prüden Amerika Berühmtheit erlangte, mehrmals für ihre Tätigkeit ins Gefängnis kam, aber nach ihren Entlassungen jedes Mal mangels anderer Erwerbsmöglichkeiten ihr Gewerbe wieder aufnahm. Zuletzt betrieb sie eine ganze Kette von Edelbordellen in New York City und in Saratoga Springs. Der US-Krimiautor George Baxt setzte Polly Adler in seinem Roman „The Dorothy Parker Murder Case“ ein Denkmal, in dem er auch andere reale Persönlichkeiten auftreten lässt, unter anderem seine schon im Titel genannte Autorenkollegin Dorothy Parker und den Schauspieler Rudolph Valentino. Hier stieß auch Angelika Hager auf Polly und fand, dass sie eine spannende Frauenfigur wäre, mit der sie sich gut identifizieren kann. Schon vom Klang her schien der Name  zu einer Protagonistin zu passen, die „leicht chaotisch und ständig gestresst durchs Leben hetzt und versucht, ihr ständiges Scheitern mit Schmäh zu meistern“. In dieser Balance von Tragik und unvermeidlicher Komik liegt wohl auch das Geheimnis des Dauer-Erfolgs. „Wir alle erleben doch täglich Momente von größerer oder kleinerer Tragik, Ärger, Aufregung, über die man aus der Distanz dann lacht. Charlie Chaplin hat gesagt: Das Leben in Großaufnahme ist eine Tragödie, aber eine Komödie aus der Weitwinkel-Perspektive.“
„Apropos Perspektive“, wirft der Fotograf ein, „da sagt ein Mann zu seiner Frau: Schatzi, wir werden uns jetzt eine Zeitlang nicht sehen. Sie: Warum, fährst du weg? Er: Nein, dreh dich auf den Bauch.“ Ein Sonnenstrahl fällt Angelika Hager in die Augen, sie schaut geblendet weg. Beim besten Willen lässt sich nicht sagen, ob sie gelacht hat. Polly Adler sollte von Anfang an nicht nur einen Namen, sondern auch ein Gesicht haben. „Es gab eine sehr klare Vorstellung davon, wie das Kolumnenfoto aussehen muss, nämlich erstens von den äußeren Attributen ganz anders als ich, also schwarze, kurze Haare und ein schma­les Gesicht. Dazu wünschten wir uns eine urbane Ausstrahlung, flott, unabhängig, frech. Dann haben wir so lang nach einem dazu passenden Model gesucht, bis wir das richtige Bild beisammen hatten.“ Die Mühe mit dem Foto, das ja trotz allem nur ein Symbolbild war und auch von den Lesern bald als solches verstanden wurde, zeigt aber, wie stark ausgeprägt die Vorstellung vom Konzept der Kolumne bereits bei ihrem Start war – obwohl die Autorin heute behauptet, dass sich die Inhalte „mehr oder weniger von selber ergeben haben“. Autobiografisch im eigentlichen Sinn waren die Geschichten nie, sehr wohl aber meist aus dem Leben genommen: „Ich bin schnell draufgekommen, dass mir eine Pseudonym-Kolumne einen idealen Freiraum schafft. Man kann sehr viel von sich hergeben, ohne sich wirklich zu entblößen, und man kann Dinge erfinden, ohne dass man das jemandem erklären muss.“ Natürlich bedeutet das auch, dass die ganze Umwelt zum Rohmaterial wird. Erlebnisse aus dem Alltag, Anekdoten von Kollegen und Bekannten, Begegnungen im Beruf und in der Freizeit – alles kann den Anstoß für ein neues Kolumnenthema liefern. „Ich plündere mein Leben und das meiner Freunde aus. Das wird manchmal zur Manie, man wird zur Sammlerin von Beobachtungen und Sprüchen, die man in der Kolumne zu kleinen Geschichten oder sinnigen Betrachtungen weiterspinnt.“ Redaktionskollege Dieter Chmelar meinte deshalb einmal: „Bei dir komme ich mir vor wie ein Unfallopfer, das im Intensivzimmer als Organspender taxiert wird. Du bist die Chirurgin, die schaut, was man alles noch verwenden kann.“
Und tatsächlich liefert das Leben immer neues Material. Wie den von Bier und Wein ermüdeten Herrn im Wirtshaus in Altaussee, der kurz vor Mitternacht einen tiefen Schluck aus dem Glas nahm, seufzend auf die langsam weichende Schaumkrone blickte und zu sich selber sagte: „Naja, heut drah‘ i’s nimmer um.“ Oder die frisch Verliebten im Stadtpark, die so unglaublich zueinander hingezogen waren, dass ihr beneidenswerter Zustand einfach nur mehr lächerlich wirkte, „das Schnäbeln und Turteln und das Regredieren ins Infantile“. Das wirkliche Privatleben Angelika Hagers ist den Stammleserinnen und -lesern ohnehin vertraut. Was diese aus der Kolumne nicht wissen, das ist die Vorliebe der Autorin für die seit einiger Zeit so sehr boomenden TV-Serien. „Thriller müssen es sein, Homeland zum Beispiel oder American Odyssey, da entwickle ich Suchtverhalten.“

Wenn sie nach einem anstrengenden Tag in der Redaktion nicht gleich daheim sein will, dann ist das Café Engländer oder das Anzengruber in der Wiener Schleifmühlgasse eine bevorzugte Adresse zum Ausgehen, um ohne große Abmachung Leute zu treffen, oder um sich in die eigenen Gedanken zurückzuziehen. Das Zuhause teilt sie in „Wohngemeinschaft“, so die Eigendefinition, mit Tochter Stella, 21, jener Tochter, die in der Kolumne gern als „Fortpflanz“ apostrophiert wird, daheim aber eher Kosenamen wie „Zwiebelfee“ oder „Mäuseprinzessin“ zu hören kriegt. Und die ebenso entsetzt ist wie die Mama, wenn sie von ihren Anfang-Zwanzig-Freundinnen hört, dass die ans baldige Heiraten denken und sich sehr gut vorstellen können, danach ihren Beruf aufzugeben und sich ganz dem Dasein als Frau und allenfalls noch Mutter zu widmen. „Da wächst eine Retro-Generation heran, die sich ernsthaft einredet, man könnte ein selbstbestimmtes Leben führen, wenn man daheim wartet, bis der Mann von der Arbeit kommt. Keine Ahnung, was wir falsch gemacht haben. Irgendwie muss es auf unsere Töchter ziemlich abschreckend gewirkt haben, zu sehen, wie wir uns abstrudeln.“ Weil sie immer mehr solcher Fälle von freiwilligem Rückzug in die Weibchen-Rolle beobachten musste, schrieb sie zum ersten Mal ein Buch unter ihrem richtigen Namen, nämlich „Schneewittchen-Fieber“. Dort macht Hager genau diesen Hang zur Idylle zum Thema und stellt auch die Frage, ob es die Prinzen überhaupt gibt, die zwangsläufig nötig sind, um die Prinzessinnen-Träume zu verwirklichen. Und sie selbst? Gibt es zwischen Büchern, Kolumnen, Projekten und Freundinnen auch so etwas wie ein Liebesleben? Im Grunde ist sie Single, sagt Hager, „es gibt immer wieder Beziehungen, aber keine solchen, über die man einen Brief nach Hause schreibt.“ Denn wie gesagt, die Männer heutzutage hängen viel zu sehr an ihren schlechten Gewohnheiten und wollen sich einfach keine Mühe mehr geben. „Da fällt mir ein“, sagt der Fotograf, „ein Mann und eine Frau stehen an einer Bar und flirten. Sagt die Frau: Gehen wir zu mir oder zu dir? Darauf der Mann: Na wenn du jetzt schon so kompliziert bist, dann verzichte ich lieber.“ (Ja, bei dem hat sie gelächelt).
Bevor Angelika Hager aus dem urbanen Singledasein ein literarisches Dauerthema machte, hat sie selber einen immerhin mehrere Jahre dauernden Feldversuch in der ländlichen Familienidylle absolviert. Widerpart war der Vater von Stella, mit dem sie vor der Geburt der Tochter ein gutes Jahrzehnt lang zusammen war und unter anderem auch auf dem Lande lebte, erst zu zweit, dann zu dritt, tief versteckt im Burgenland, in einer Atmosphäre irgendwo zwischen Bullerbü und Rosamunde Pilcher: Schmuckes Dörfchen, Einfamilienhaus, „komplett mit jagdgrünem Gartenwerkzeug, eingelegten Früchten, Trockenblumensträußen und selbstgebackenem Kuchen. Ich war ziemlich erleichtert, als ich schließlich in die Stadt gezogen bin.“ Dabei trennte sie sich auch vom langjährigen Mann, die Tochter war da gerade einmal drei Jahre alt, doch das Auseinandergehen klappte ohne Verletzungen, das Verhältnis seither bezeichnet sie als „ausreichend gut“. Weshalb der Ex auch nichts hergibt für das Männerbuch, das da noch ungeschrieben in ihr gärt. Aber auch so hat sie bereits ein paar Typen von X-Chromosom-Trägern gesammelt, die sie gern auf die Schaufel nehmen wird.  Zum Beispiel hat Angelika Hager gar nichts übrig für „vorauseilenden Feminismus-Gehorsam. Die wollen sich beliebt machen und sagen deshalb bei jeder Gelegenheit ,Ich hoffe das war jetzt nicht sexistisch‘, und sie verwenden das Binnen-I, das ich so grässlich finde.“ Ebenfalls in Ungnade fallen bei ihr übertrieben zur Schau gestellter Väter-Fleiß: „Diese Brad-Pitt-Inszenierungen, wo einer mit umgehängtem Baby in die Aufsichtsratssitzung kommt – lächerlich!“. Und dann gibt es da noch „die weit verbreitete Spezies des Jammer-Pepi. Männer sind große Jammerer, vor allem in Wien. Diese ständige Befindlichkeit geht mir furchtbar auf die Nerven.“ Was sie dagegen mag, sind Männer, die sich selber nicht allzu ernst nehmen: „Das tun nämlich die meisten Menschen, Männer wie Frauen. Und wir leben sowieso in einer Gesellschaft, die immer spießiger wird, da brauchen wir Schmäh und Selbstironie wie einen Bissen Brot.“