Wenn man sie so sieht, würde man nie glauben, dass ihnen der größte Luxuskonzern der Welt gehört. Und genauso wollen das die Brüder Alain und Gerard Wertheimer auch. Schließlich läuft das Chanel-Imperium wie von selbst – also kümmern sie sich lieber um ihre Pferde-Rennställe und sportliche Derby-Siege.

Wer den Namen „Wertheimer“ liest, dem fällt vielleicht die Fahrt im Aufzug ein – oder eventuell ein würdiger alter Tresor, der bis heute so manchen Schatz birgt. Die Firma, die diese nützlichen Dinge herstellt, genauso wie Rolltreppen und stählerne Büromobel, ist die österreichische Wertheim AG, die 1852 von Franz Freiherr von Wertheim in Wien gegründet wurde und sich mittlerweile großteils im Besitz des Schweizer Konzerns Schindler befindet. Die Wertheimers jedoch, von denen hier die Rede sein soll, gehören eher zu den Leuten, die andere Unternehmen aufkaufen und so still und leise Imperien errichten. Dass man ihren Namen nicht kennt und schon gar nicht mit dem legendären Parfum Chanel No. 5 in Verbindung bringt, liegt daran, dass die Familie äußerst zurückgezogen lebt, so gut wie nie Interviews gibt und kein Interesse an öffentlichen Auftritten hat. Den Brüdern Alain und Gérard Wertheimer genügt es vielmehr, auf der Forbes-Liste der reichsten Menschen der Welt auf Platz 93 zu stehen – mit einem geschätzten Vermögen von derzeit 7,5 Milliarden Dollar (Stand 2011). Dabei hätte ihr Großvater Pierre, der 1924 zusammen mit seinem Bruder Paul bei Chanel einstieg, in den vierziger Jahren seinen Anteil beinahe wieder verloren. Schuld daran war eines der gefährlichen Spielchen der Firmengründerin Coco Chanel…

House of Chanel

Ach ja, Coco! Die ist, wie man heute gern sagt, eine „Ikone“ – und damit ist nicht et­wa das russische Heiligenbild gemeint, sondern ein Star, ein Idol, eine Figur, die stellvertretend nur für sich selbst steht. Oder so ähnlich. (In Wahrheit übersetzte es einer falsch aus dem Englischen, und alle anderen schreiben das seither ab.)
Coco Chanel jedenfalls, geboren am 19. August 1883 in Saumur in der französischen Region Pays de la Loire, gilt nicht umsonst als eine der wichtigsten Persönlichkeiten des 20. Jahrhunderts. 2009 drehten sich sogar zwei Filme um sie: In „Coco Chanel – Der Beginn einer Leidenschaft“, der ihre ersten 30 Lebensjahre beschreibt, wurde sie von Audrey „Amélie“ Tautou dargestellt; in der Love-Story „Coco Chanel & Igor Stravinsky“ verkörperte eine gewisse Anna Mouglalis die Modeschöpferin. Unangenehmen oder gar kontroversen Themen wichen beide Streifen weitgehend aus – aber in Cocos Fall weiß man ja auch wirklich nie so genau, inwieweit es sich dabei um bloße Gerüchte handelt.

Über Cocos Erfolgsgeschichte ist viel ge­schrieben worden: Getauft auf den Namen Ga­brielle, höchstwahrscheinlich die zweite uneheliche Tochter des Hausierers Albert Chanel und Jeanne Devolle, die erst später heirateten. Fünf Geschwister. Nach dem Tod der Mutter sechs Jahre im Waisenhaus eines Klosters aufgewachsen, wo man sie zur Näherin ausbildete. Ein unruhiger Geist, launenhaft, gefühlsbetont, exzentrisch – eine solche Frau konnte einfach nicht lange Verkäuferin und Schneiderin bleiben. Mit 17 Jahren wollte Gabrielle unbedingt ins Varieté, als Sängerin. Sie begann mit einer Freundin im Lokal Rotonde in Moulins aufzutreten, wo sie vor allem zwei beliebte Schlager der Jahrhundertwende zum besten gab: „Ko-Ko-Ri-Ko“ und „Qui qu’a vu Coco?“ Das Publikum nannte sie fortan „Coco“ – und dieser Spitzname sollte später stellvertretend für eine weltweit be­kannte Luxusmarke stehen.

„Ein Mann kann anziehen was er will,
er bleibt doch nur ein Accessoire der Frau.“
Coco Chanel

Unter den Of­fi­zieren, die das begabte Mädchen anhimmelten, war auch der reiche Pariser
Indu­stri­el­lensohn und Erbe Étienne Balsan, der sie in die Gesellschaft einführte und ihr eine Woh­nung in Paris bezahlte. 1910 finanzierte er auch ihr erstes Hutatelier in der französischen Hauptstadt. Coco fiel damals auf, weil sie umgenähte Hosen, Jacketts und Mascherln aus dem Kleiderschrank ihres Freundes trug. So wurde auch der nächste zahlungskräftige Lieb­haber auf sie aufmerksam: der britische Bergwerksbesitzer Arthur „Boy“ Capel. Mit seiner Hilfe konnte sie 1913 im Seebad Deauville eine Boutique eröffnen. Zwei Jah­re später betrieb sie bereits Modesalons in Paris und Biarritz; 1916 beschäftigte sie 300 Näherinnen. Ihre Kleiderentwürfe – schlichte, funktionale Mode aus einfachen Stoffen, ohne Verzierungen und Applikationen, aber trotzdem elegant – trugen dazu bei, dass sich die Frauen dieser Zeit emanzipierten, während ihre Männer in den Schützengräben des Ersten Weltkriegs krepierten. Das Kleine Schwarze („eine Art Uniform für alle Frauen mit Geschmack“) eroberte 1926 die internationale Fashion-Szene. „Eine Welt ging zu Ende, eine andere entstand“, erklärte Coco Chanel einmal, warum sie zur rechten Zeit am rechten Ort war. „Ich hatte das richtige Alter für dieses Jahrhundert. Es wandte sich logischerweise an mich.“

Kleine schwarze Seele

Bald konnte sie Capel all ihre Schulden zurückzahlen und sich unabhängig machen. „Geld ist der Schlüssel zur Freiheit“, sagte Coco. 1917 ernannte die US-Vogue ihre Mode zum „Inbegriff der Eleganz“. Capel („der einzige Mann, den ich je geliebt habe“) starb 1919 bei einem Autounfall; Chanel arbeitete weiter und kreierte 1921 mit dem Parfumeur Ernest Beaux ihren legendären Duft mit der Nummer 5 – das erste große Parfum, das nicht „frauentypisch“ nach Blumen roch. 1936 war sie ein Star und eine Branchengröße mit 4000 Angestellten. Die Zahl ihrer prominenten und wohlhabenden Liebhaber war nicht ganz so groß, aber dennoch beträchtlich. Unter anderem hatte sie illegitime Affären mit Igor Strawinsky (Kom­­ponist), Hugh Richard Arthur Grosve­nor (Her­zog von Westminster und Krösus), Dmitri Pawlowitsch Romanow (Neffe des russischen Zaren) und Pierre Reverdy (Dichter).


So unabhängig sie sich privat gab – geschäftlich war sie es schon lange nicht mehr. Schon 1924 trat sie 70 Prozent von „Parfums Chanel“ an Pierre und Paul Wertheimer ab; Theophile Bader (der Gründer der Galeries La­fa­yette) hielt 20 Pro­zent. Der Geschäftsmann Pierre Wert­heimer (1888–1965) war jüdischer Abstam­mung und hatte 1910 die reiche Ban­kiers­erbin Germaine Revel geehelicht. Neben seinen Business-Aktivitäten war er vor allem im Pferderennsport aktiv – die Pferde aus seinem Rennstall gingen bei Veranstal­tun­gen in aller Welt als erste durchs Ziel. Wertheimers Kapital und vor allem seine Verbindungen nach Amerika kamen Coco Chanel sehr zugute. Als sie dann immer erfolgreicher wurde, bedauerte sie die Part­nerschaft aber und fühlte sich mit ihren zehn Prozent benachteiligt. Mit der Nazi-Okkupation von Paris und einem neuen Ge­liebten, dem deutschen Presseattaché Hans Günther von Dincklage, sah sie ihre Chance gekommen, die „Sippe“ loszuwerden. Doch der Wertheimer-Clan war schneller und klüger: Pierre und seine Familie flohen 1940 in die USA und installierten einen „arischen“ Strohmann in Paris, der die Geschäfte in ihrem Sinne wei­terführen durfte.
Coco hatte verloren – und die National­sozialisten verloren den Krieg. Die Chanel wurde wegen Kollaboration verhaftet und ging anschließend ins Schweizer Exil. Ihr Comeback im Jahre 1954 schien erst zu scheitern, dann jedoch errang sie mit ihren eleganten Wollkostümen (Stichwort: Jackie Kennedy) einen weiteren triumphalen Sieg in der Modebranche. Dennoch lebte sie weiterhin als einsamer Single, wohnte jahrelang im Hotel Ritz – und starb auch einsam, am 10. Januar 1971, ausgerechnet an ei­nem arbeitsfreien Sonntag. Nach Cocos Tod entwarf der ehemalige Dior-Designer Gaston Berthelet die Chanel-Mode; 1984 wurde Karl Lagerfeld zum Chefdesigner der gesamten Modesparte des Hauses ernannt. Das hätte der Namens­geberin garantiert nicht gefallen, da sie ho­mosexuelle Modemacher hasste: „Sie lassen Frauen aussehen wie Transvestiten. Sie kennen die Frauen nicht. Sie haben nie eine Frau gehabt“, sagte sie einmal.

Wertsteigerer

Seit 1954 gehört der gesamte Chanel-Kon­zern den Wertheimers. Und es ist ein gewaltiger Konzern: Die Haute-Couture-Modemarke blüht und gedeiht ebenso wie die Abteilung für edle Düfte; seit 1987 werden auch Chanel-Armbanduhren angeboten. Weltweit gibt es mehr als 200 Chanel-Bou­tiquen in allen wichtigen Städten. Die Könige dieses Luxusreichs sind äu­ßerst verschwiegen und gelten als „unbekannte Größen“ der Branche. Bei Chanel-Modeschauen sitzen Alain und Gérard Wert­heimer in der hintersten Reihe, bei gesellschaftlichen Anlässen treten sie so gut wie nie in Erscheinung, und Fragen nach dem Um­satz ihres Unternehmens beantworten sie nur mit: „Chanel nennt keine Zahlen.“ Mit Pferden haben sie anscheinend lieber zu tun, wie ihre famosen Vollblutgestüte in aller Welt beweisen. Gérard wohnt in Genf und wacht von dort aus über die Rennställe, aber auch die Uhrensparte von Chanel; Alain lebt diskret auf der noblen Fifth Avenue in New York. Beide sammeln Immobilien, wer­tvolle Gemälde, französische Spitzenweingüter und alles andere, was gut und teuer ist. Leisten können sie es sich ja: Gerüchten zufolge lag der Chanel-Jahresumsatz Anfang der 2000er Jahre bei zwei Milliarden Dollar – wodurch Chanel in der Liste der Luxus­unternehmen auf Platz eins gelandet und sogar Louis Vuitton überholt hätte. Wozu also die Heimlichtuerei? Vor einigen Jahren verriet Gérard (gegen alle familiären Ge­wohn­heiten) einer Journalistin der New York Times: „Es geht um Chanel. Es geht um Karl. Es geht um alle, die für Chanel entwerfen und arbeiten. Es geht nicht um die Wertheimers.“ Die verdienen lieber in Ruhe Geld. Und sind wahrscheinlich unangenehm berührt, wenn ihr Chefdesigner Lagerfeld sie in aller Öffentlichkeit „zwei tolle Brüder“ nennt…
www.chanel.com


CHANEL – Das heimliche Imperium

Beteiligungen und Einkäufe der Wertheimer-Brüder:

Isaac Mizrahi (1993–1998) Modelinie des gleichnamigen US-Designers, der heute in amerikanischen TV-Verkaufsshows sein Dasein fristet
Tanner Krolle (Anfang der 90er bis 2003) Englische Sattel und Edel-Lederwaren
G&F Chatelain (1993) Schweizer Uhrenfirma
Holland & Holland (1996) prominenter britischer Luxus-Waffenhersteller für Adelige und Promis; man versuchte sich auch an einer Jagdmodenkollektion.
Frédéric Fekkai (1996–2005) Friseursalon-Kette
Eres (1997) Bademodenhersteller
Bell & Ross (1998) amerikanische Uhrenfirma (Flugzeugdesign und Taucheruhren), geleitet von den Schweizer Designern Bruno Belamich und Carlos A. Rosillo
Paraffection Seit 2002 werden in diesen „Ateliers d’Art“ die fünf langjährigen und nunmehr vom Konzern erworbenen Zuliefererfirmen Desrues (Accessoires), Lemarié (Federn & Kamelien), Lesage (Stickereien), Massaro (Schuhe) und Michel (Hüte) als besonders traditionsreiche Qualitäts-Handwerksbetriebe hervorgehoben.
Bordeaux-Weingüter Rauzan-Segla (Margaux), Château Canon (Saint-Emilion)