Schon als Kind forschte Sophie Karmasin in den Federpennalen ihrer Mitschülerinnen, weil sie deren Filzstiftmarken wissen wollte. Mit ihrem Institut für Motivforschung liefert sie heute Grundlagen für Millioneninvestitionen der Konsumgüterindustrie. Dabei ist ihr die Berufswahl ziemlich schwer gefallen. 

Was tut eigentlich eine Motivforscherin, wenn sie morgens ins Büro kommt? Sophie Karmasin ist solche Fragen gewohnt. Immer noch haftet ihrem Beruf das Flair des Geheimnisvollen an. Es ist ja schließlich nicht selbstverständlich, den Konsumenten, Wählern und Mediennutzern tief ins Unterbewusstsein zu blicken und herauszufinden, aus welchen Beweggründen eine Hausfrau im Su­permarkt nach einem ganz bestimmten Produkt greift oder ein Zeitungsleser ein ganz bestimmtes Inserat länger anschaut als ein anderes. Dabei bemüht sich die Institutschefin seit Jahren, das Bild ihrer Profession auch in der Öffentlichkeit ein wenig zurechtzurücken. Sie erklärt montags im „Profil“, was hinter den aktuellen politischen Trends steckt, tritt in TV-Diskussionen auf, nimmt fleißig Einladungen zu Kongressen an, gibt Interviews, hält Vorträge, veröffentlicht Fachartikel. „Ich stoße da immer auf viel Interesse, ganz gleich, ob es um das Image der österreichischen Lebensmittel geht oder um Politik“, konstatiert die Ergründerin des menschlichen Innenlebens. „Das Bedürfnis nach Erklärungen ist sehr groß in unserer Gesellschaft.“ Also gibt es gar keine normalen Tage für Sophie Karmasin? „Aber klar. Meistens komme ich um acht ins Büro, drehe den Computer auf, nehme eine Tasse Kaffee und beantworte zunächst einmal Mails. Dann folgen in der Regel Kundentermine, dazwischen gibt’s immer wieder Besprechungen mit Mitarbeitern.“ Rund 25 Leute arbeiten bei Karmasin Motivforschung – die Interviewer nicht mitgerechnet, die draußen bei den Konsumenten die Daten erheben; die sind überwiegend freie Mitarbeiter und kommen erst dann zum Einsatz, wenn das Design einer Untersuchung feststeht. „Bei der Gestaltung des Fragebogens, bei der Frage, welche Untersuchungsmethode angewendet wird, da bin ich immer auch persönlich involviert.“ Der spannendste Moment ist für Karmasin nach wie vor der Augenblick, „in dem sich die Wahrheit enthüllt – wenn wir die Daten ausgewertet haben. Ich hol’ mir immer als Erste den Ausdruck mit den Tabellen. Ich bin einfach neugierig und will wissen, was herausgekommen ist.“ Sehr oft zeitigen die Ergebnisse gro­ße Wirkung. Wenn Konzerne die Akzeptanz neuer Produkte vorab testen lassen, dann können Investitionsentscheidungen in Millionenhöhe von den Prozentzahlen in Karmasins Balkendiagrammen abhängen. „Daran wird man als Institut auch gemessen: ob man das spätere Konsumentenverhalten richtig einschätzen konnte oder die Werbewirkung einer Kampagne richtig beurteilt hat.“ Die Neugierde der Forscherin auf ihre Ergebnisse entspringt freilich nicht ausschließlich der geschäftsführerischen Vorsicht. Sie ist vielmehr ein Wesenszug von Sophie Karmasin, eine der beständigsten Triebfedern ihrer Persönlichkeitsentwicklung. Schon als Volksschülerin, so erzählt die heute 42-jährige, hätte sie die Federpennale und Bankfächer ihrer Mitschülerinnen durchstöbert: „Ich wollte einfach wissen, was die so haben, welche Ölkreiden, welche Filzstifte. Ich wollte mir ein Bild davon machen, wie es bei anderen Mädchen aussieht.“ Da scheint es geradezu unausweichlich, dass sie als Erwachsene in die Fußstapfen von Papa und Mama treten musste. Mutter Helene Karmasin war eine der ersten, die in Österreich den Begriff und die Disziplin der „Motivforschung“ systematisch anwandte. Sie gründete das Institut, dem Sophie heute vorsteht und das von Anfang an in enger Verflechtung mit dem Unternehmen des Vaters Fritz Karmasin stand, nämlich dem Gallup-Institut. Dieses wiederum gehört zu den ältesten noch bestehenden Instituten der österreichischen Umfrageforschung, wo seit 1949 die Meinung des Volkes erhoben wird. 1964 verlieh es sich stolz den Namen des US-Marktforschungspioniers George Gallup.

Doch Sophies Entscheidung für den Weg und die Firma der Eltern war in Wahrheit Ergebnis eines jahrelangen Findungsprozesses. Gerade, weil schon der Name Karmasin den Weg für Sophie klar vorzugeben schien, sträubte sie sich jahrelang gegen jede berufliche Verbindung mit den Eltern. Gleich nach der Matura galoppierte die Tochter zunächst in eine andere Richtung – na ja, nicht ganz: Immerhin konnte man das Studium der Psychologie noch als taugliche Vorbereitung für eine Karriere im Umfrage-Business gelten lassen. Doch weil ihr die Welt der Seelenforschung zu wenig konkret war, schloss Sophie ein Betriebswirtschaftsstudium an. Der akademische Fleiß trug ihr eine eindrucksvolle Serie an akademischen Titeln ein, nämlich zweimal Magister und einmal Doktor (MMag. Dr.), sowie einen Job beim Waschmittelkonzern Henkel, wo sie 1993 als Product-Managerin für Persil und Somat startete. „Ich hatte das Gefühl, dass ich in der Industrie viel eher wirklich etwas tun konnte als in einem Institut. Was meine Eltern damals machten, fand ich zwar beeindruckend, aber letztlich lieferten sie ja nur Zahlen. Die wirklichen Entscheidungen, dachte ich, fallen in den Marketing-Abteilungen der großen Unternehmen.“ Zunächst schienen diese Erwartungen auch wahr zu werden. Die Jungmanagerin arbeitete in Wien und in Belgien, war Teil internationaler Teams, werkte an der Markteinführung eines Reinigungspulvers, das in Flaschen verkauft wurde. „Ein tolles Gefühl, das Produkt dann wirklich in den Regalen zu sehen, das wir vorher monatelang entwickelt und getestet hatten. Wir mussten dazu erst die Techniker überzeugen. Ich stand selber in Belgien an einer Abfüllanlage und habe vorgeführt, dass es überhaupt möglich ist, Pulver in Flaschen abzufüllen.“ Die Begeisterung hielt freilich nur drei Jahre an. Bald erkannte Karmasin, dass hinter der großindustriellen Perfektion vor allem Routine steckt. Die Arbeit, die man ihr abverlangte, war „spannend, aber doch immer wieder dasselbe“ – anders als im Beratungsgeschäft, wo jeder neue Auftrag eine völlig veränderte Aufgabenstellung bringt. Und so holte das Magnetfeld ihres Namens sie 1995 ein, als ihr die Eltern das Angebot machten, ins Familienunternehmen zurückzukehren. Nicht dass ihr die Entscheidung leichtgefallen wäre: „Ich habe den Abschied von Henkel nur geschafft, weil mir mein Chef damals das Gefühl gab, es wäre keine endgültige Entscheidung. Er sagte: ,Sie können jederzeit wieder zu uns kommen, aber glauben Sie mir, Sie werden es nicht tun.‘ Ein wirklich prophetischer Satz.“ Immerhin brachte der Ausflug in die Industrie ein vertieftes Verständnis für die Obsession der großen Firmenkonglomerate, was die Vorlieben der Konsumenten angeht: Waschmittel- und Lebensmittelkonzerne werfen jedes Jahr ein paar Dutzend neue Produkte auf den Markt. Meist stehen dahinter keine echten Neuerungen, nur ein anderes Design, eine neue Marke oder ein leicht veränderter Geschmack, die für erhöhte Aufmerksamkeit in der Überfülle der Supermarktregale sorgen sollen. Die Manager solcher Launches oder Relaunches können es sich einfach nicht leisten, mit großem Schwung und vielen Werbemillionen an den Wünschen der Endverbraucher vorbeizufahren. Also gilt der Grundsatz: Erst werden die Käufer gefragt, ob sie das Ding auch wollen, dann startet die Werbung, die sie davon überzeugen soll, dass sie jetzt auch zugreifen müssen…

Der spannendste Moment bei jeder Umfrage – wenn die Daten ausgewertet vorliegen. Ich hol mir immer als Erste den Ausdruck mit den Tabellen.
Sophie Karmasin

Viel schwieriger ist die Aufgabe, die Markt­chancen echter Innovationen abzuschätzen. Wie soll man die Leute nach ihrer Meinung zu Dingen fragen, die sie noch gar nicht kennen? So wurde zum Beispiel noch vor 15 Jahren die Rolle, die E-Mail und Internet heute spielen, völlig unterschätzt. Umfragen aus dem Jahr 1995 ergaben selbst in den USA, dass 60 bis 70 Prozent der Bevölkerung überzeugt waren, privat niemals einen Computer zu brauchen. Und noch vor fünf Jahren saßen die Mobiltelefon-Erzeuger vor Studien, nach denen ihre Kunden kein Interesse daran hätten, auf ihren Handys auch noch Mails zu lesen – und daher auch nicht bereit wären, dafür ein bisschen mehr zu zahlen. „Hier muss man wirklich in die Tiefe gehen“, verrät Sophie Karmasin, „denn die Motive, die dahinter liegen, lassen sich durch qualitative Befragungen sehr wohl herausfiltern.“ So ist der Trend zu mehr Mobilität seit Jahren ungebrochen, die ständige Ad-hoc-Kommunikation in allen Lebenslagen wird zur Notwendigkeit. Fügt man dazu noch den Wunsch, möglichst wenig an wuchtigen Geräten herumschleppen zu müssen, lässt sich bereits mit einiger Treffsicherheit vorhersagen: Ein Gerät, das so groß ist wie ein Handy und möglichst viel von dem kann, was ein Computer bietet, wird ein Markterfolg – auch wenn die Konsumenten das noch gar nicht wissen können. Der Wechsel aus dem Weltkonzern in den elterlichen Betrieb erwies sich für Karmasin härter als erwartet. „Ich war gerade einmal 28, und als Tochter der Chefs stand ich von Anfang an unter starker Beobachtung. Ich hatte keine Schonzeit, in der man gesagt hätte, na gut, die muss sich erst einarbeiten. Ich konnte auch niemanden fragen, wenn ich irgendwo überfordert war.“ Noch dazu musste sie gleich einmal eine Führungsposition übernehmen, nämlich die Leitung der empirischen Abteilung. Ab 1998 saß sie auch in der Geschäftsleitung der Karmasin Marktforschung (also des väterlichen Gallup-Instituts); im angeschlossenen Institut für Motivforschung ist sie seit 2006 als Geschäftsführerin für den gesamten Betrieb verantwortlich. „Entscheidungen zu treffen und zu verantworten, das bringt natürlich auch starke Belastung“, gesteht sie im Rückblick. „Aber ich habe immer gewusst, dass ich mir das zutrauen kann, und ich wollte die Chance ergreifen, zu zeigen, dass Frauen Unternehmen führen können, wenn man sie lässt.“ Der kämpferische Ton kommt nicht von ungefähr. Seit ihrer Teenagerzeit steckt in Sophie Karmasin eine Emanze, und dieser Impuls ist nie schwächer geworden, auch wenn die Methoden ihres Kampfes um weibliche Gleichberechtigung heute andere sind. „In der Mittelschule war das vor allem eine Revoluzzer-Verweigerungshaltung. Ich habe alles abgelehnt, was mit Mode, Marken und Chic zusammenhing, trug abgerissene Jeans und ungepflegte Haare. Und natürlich haben meine Freundinnen und ich Emma (die Zeitschrift von Alice Schwarzer, Anm.) gelesen.“

Heute setzt sie mehr auf Vernetzung und Bewusstseinsbildung. 2003 gründete Sophie Karmasin den „Klub für Frauen“, dem derzeit unter anderem die Journalistinnen Barbara van Melle und Danielle Spera, die Politikerinnen Christine Marek, Gabriele Heinisch-Hosek, Ulli Sima und Eva Glawischnig oder die Business-Ladies Gabriele Zuna-Kratky und Regina Prehofer angehören. „Wir machen Veranstaltungen, vernetzen, geben einen Newsletter heraus. Wir wollen aufzeigen, wo es überall mangelt, nämlich auch an den Strukturen, nicht nur am Geld. Kinderbetreuung ist zum Beispiel ein Riesenthema, bei Österreich europaweit nachhinkt.“ Sie selbst hat es „mit viel Anstrengung und der Hilfe eines wirklich sehr kooperativen Mannes“ geschafft, zwei Kinder neben der Karriere großzuziehen: Leon ist neun, Moritz sechs; Ehemann Gerhard Schaller arbeitet als Manager bei Kraft Foods. Der Familie gehören die Wochenenden und die eher spärliche Freizeit. „Samstag und Sonntag gehen wir kaum aus, schließlich habe ich während der Woche genug Abendtermine.“ Sophie Karmasin genießt die intensive, exklusive Beschäftigung mit den Söhnen – „solange die das noch cool finden“. Deshalb bleibt die Kleinfamilie auch im Urlaub lieber unter sich: „Wir sind keine Freunde von Gemeinschaftsreisen mit anderen Familien oder in großen Gruppen. Zu viert haben wir mehr voneinander.“ Wenn die Mama dann entspannt am Pool liegt, kann es schon sein, dass das Buch in ihrer Hand kein fetziger Krimi ist, sondern ein Werk der Fachliteratur. Passt aber trotzdem, denn wahrscheinlich steht da drin, dass Geld nicht das Wichtigste im Leben ist, sondern zwischenmenschliche Beziehungen und Geborgenheit im Kreise der Familie jene Hirnregionen am stärksten stimulieren, von denen die Signale für Freude und Zufriedenheit ausgehen. Sophie Karmasin befasst sich derzeit nämlich ganz intensiv und systematisch mit Glücksforschung.

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